Die wenigsten Betroffenen, die sich mit anderen im Internet austauschen, erwarten sich davon professionelle Beratung oder gar eine komplette Therapie (vgl. Kestler 1998, S. 37 und Jaeger 1998, S. 50). Charakterisiert man die Interaktion im Netz als Selbsthilfe im herkömmlichen Sinn (vgl. nächster Punkt), so wird deutlich, daß Selbsthilfe im Internet genau wie die Selbsthilfe, die in konventionellen Gruppen stattfindet, keinen Ersatz für professionelle Hilfe leisten kann (vgl. Motsch 1996, S. 117).
Vielmehr steht der Erfahrungsaustausch unter Menschen mit ähnlichen Problemlagen und emotionales Verständnis im Vordergrund; die Mailingliste und andere Kommunikationswege werden nicht als ersetzendes, sondern als ergänzendes Medium zu der konventionellen Therapie gesehen: "Sie [Newsgroup und Mailingliste, NP] sind keine Konkurrenz für ihn [den Therapeuten, NP] und für meine Therapie, sondern Bereicherung und Ergänzung. Mir kommt es manchmal so vor, daß meine Therapie intensiver geworden ist." (Jaeger 1998, S. 51). Durch entsprechenden Austausch mit anderen kann das Internet als Medium genutzt werden, um sich schließlich für eine bestimmte Therapie, Behandlungsform oder für die Unterstützung durch eine konventionelle Selbsthilfegruppe zu entscheiden (vgl. Winni 1998, S. 78).
Ob und wie nun erfolgreiche professionelle Beratung und Therapie in allen Fällen auch über das Medium Internet stattfinden können, wird an vielen Stellen rege untersucht (vgl. Janssen 1998, Lorz 2000 u. v. a. m.).
Geht man von den Merkmalen und Leistungen aus, die der Selbsthilfe im Allgemeinen zugeschrieben werden, so sind die oben beschriebenen Austauschmöglichkeiten für Betroffene klar als Selbsthilfe zu bewerten: Die informelle Ebene sowie die Gleichstellung der Nutzer, kostenlose Teilnahme, die Wichtigkeit der Gruppe ebenfalls Betroffener zum Erarbeiten eigener Problembewältigungsstrategien sowie Gespräche, Weitergabe eigener Erfahrungen und wechselseitige Hilfe als Schwerpunkte sind Kennzeichen von Selbsthilfegruppen (vgl. Wohlfahrt & Breitkopf 1995, S. 44), die sich auch im virtuellen Austausch Betroffener wiederfinden - lediglich die Nähe zu den jeweiligen Wohnorten der Teilnehmer wird durch das Medium unwichtig.
Die Kommunikation Betroffener im Internet kann ähnliche Möglichkeiten bieten wie sie "real life"-Selbsthilfegruppen zugeschrieben werden (vgl. Motsch 1996, S. 114 f.): Stabilisierung auf psychosozialer Ebene und Aufheben der sozialen Isolation können in konventionellen Gruppen wie auch im Internet stattfinden, Sekundärprävention im Sinne eines Rückfalles bei Suchterkrankungen kann durch die gute Erreichbarkeit der "Onliner" in virtuellen Gemeinschaften womöglich sogar besser stattfinden als in Gruppen (da die Hemmschwelle, jemanden telephonisch zu erreichen, unter Umständen größer ist als jemanden anzusprechen, von dem man sieht, daß er gerade online ist).
Die Hilfe bei der Bewältigung des Alltags erfolgt über das Internet indirekter als bei Treffen von Selbsthilfegruppen: Ein reales Treffen für Onliner zu organisieren, die zum Beispiel an einer Panikermailingliste teilnehmen, damit sie sich dann bei dem Treffen gegenseitig in schwierigen Situationen unterstützen können, bedeutet einen erheblichen Aufwand an Koordination und Organisation, der in Selbsthilfegruppe nicht anfällt. Allerdings berichten Schreiber in den Listen von ihren Erfolgserlebnissen (wie etwa eine Bahnfahrt oder alleine Einkaufen gehen), so daß daraufhin eine positive Wirkung auf die anderen Teilnehmer entsteht, die von Mitfreuen über diese Erfolge bis hin zum Stecken eigener Ziele reicht ("x ist alleine Bahn gefahren, und morgen werde ich versuchen, in Begleitung in ein CafĂ© zu gehen!").
Die eigene Betroffenheit und die Motivation, primär für sich selbst etwas zu verändern, läßt einige Aspekte, die Selbsthilfegruppen übernehmen, im Internet vorerst in den Hintergrund treten, da die lose Struktur und hohe Fluktuation von Internet-Communities die Realisierung erschwert, wie dies etwa bei Prävention, Angehörigenarbeit, Interessensvertretung/ Lobbyarbeit und öffentlichkeitsarbeit (vgl. Motsch 1996, S. 115 f.) der Fall ist. Durch eigene Internetseiten, die einigen Mailinglisten und Foren angegliedert sind oder von einzelnen Betroffenen selbst erstellt wurden, decken manche Internetangebote für Ratsuchende im psychosozialen Sektor auch diese Aufgaben konventioneller Selbsthilfegruppen zumindest teilweise ab.
Aus dieser großen ähnlichkeit und Nähe von Internetangeboten für Betroffene und herkömmlicher Selbsthilfe ergeben sich meines Erachtens auch für Förderer von Selbsthilfe neue Chancen, Aufgaben und Ansätze, wie etwa für Kontakt- und Informationsstellen für Selbsthilfegruppen, Krankenkassen und Professionelle.
Informelle Zusammenschlüsse von Ratsuchenden, die sich im und über das Internet
gebildet haben, sollten auch von den Förderern konventioneller Selbsthilfe
wahrgenommen werden und für sie über das Internet erreichbar sein. Im
April 2000 verfügten von den 236 örtlichen Selbsthilfeeinrichtungen, die bei
der Nationalen Kontakt- und Informationsstelle Nakos
genannt werden, lediglich 21,2% über eine Internetadresse und nur knapp ein
Viertel über eine Mailadresse (vgl. Thiel 2000).
Die Gelegenheit, sich selbst über die Angebote für Betroffene zu informieren,
die das Internet bereithält, entfällt somit für viele Stellen genauso wie
die Möglichkeit der schnellen Kontaktaufnahme von Betroffenen, die sich nach
ihren Erfahrungen im Internet für konventionelle Selbsthilfe in einer örtlichen
Gruppe interessieren.
Kontaktstellen und professionelle Helfer wirken gegenüber Ratsuchenden als Multiplikatoren. Sie sind es, die auf Angebote und Hilfsmöglichkeiten hinweisen und dienen somit als wichtige Orientierungs- und Entscheidungshilfe für Betroffene. Durch sie können Betroffene entweder im persönlichen Kontakt zur Stelle oder über die Webseite der Kontaktstelle auf Angebote im Internet hingewiesen werden und erfahren damit eine Erweiterung ihres Entscheidungs- und Handlungsspielraumes.
Ebenso können Kontaktstellen und professionelle Einrichtungen Selbsthilfe im Internet aktiv fördern, indem sie Infrastruktur zur Verfügung stellen. Das kann zum einen durch Hilfe bei der Präsentation von im Internet existierenden Selbsthilfegruppierungen geschehen (wie etwa überlassen von Speicherplatz für eine Homepage zu einem bestimmten Thema) oder durch ein eigenes Angebot von Rechnern mit Internetanschluß in der Kontaktstelle, damit sich Ratsuchende ohne eigenen Zugang einen Einblick in die Möglichkeiten des Internet verschaffen können.
Selbsthilfe und der Austausch Betroffener über das Internet unterscheidet sich in einigen Wesenszügen von "face-to-face"-Selbsthilfe, ist ihr aber in vielen Punkten erstaunlich ähnlich. Für Betroffene kann diese Art der Hilfe neue Schwierigkeiten aufwerfen, die jedoch zumeist technischer Natur sind bzw. im Medium selbst begründet sind; durch entsprechende Maßnahmen (z. B. Erlernen vom Umgang mit dem Medium und Minimieren von Sicherheitslücken) sind diese jedoch in den Griff zu bekommen.
Ist dies geschehen, so bewerte ich das Internet als ein Kommunikationsinstrument, das für Menschen mit psychischen Problemen deutlich mehr Vorteile als Nachteile aufweist: schnelle Verfügbarkeit von vielen, teils hochwertigen Informationen, Kontakt trotz räumlicher Distanz, geschützte Räume und die Möglichkeit zur Anonymität sind Eigenschaften des Mediums, die in anderen Settings nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und im Fall der persönlichen Betroffenheit bei manchen Problemlagen hohe Wertschätzung erfahren.
Wenn auch das Internet Vorteile bietet, die andere Beratungs- und Hilfewege nicht aufweisen, so kann es nicht als Ersatz für diese gelten, sondern lediglich ergänzend bzw. als Weg zu anderen Lösungsansätzen stehen: Der Austausch in einer Mailingliste ersetzt nicht eine notwendige Therapie, wie viele Betroffene selbst äußern (vgl. IX 1.); auch taucht bei vielen Mailinglisten- und Forenteilnehmern mit der Zeit der Wunsch auf, ihre Problemlage in einer ortsansässigen Selbsthilfegruppe im persönlichen Kontakt mit anderen anzugehen.
Und doch ist oft ein erstes Informieren im Internet und die Erfahrung, dort verstanden zu werden und mit dem Problem nicht allein zu sein, der Anstoß dafür, andere Hilfen in Anspruch zu nehmen. Aus diesem Grund sollte das Medium sowohl von professioneller Seite wie Sozialarbeitern, Kliniken und therapeutischem Fachpersonal stärker genutzt, ernstgenommen und als wichtige Ergänzung zum eigenen Angebot wahrgenommen werden.
Die Stärken des Internet sind seine Informationsfülle,
die technischen Möglichkeiten und die "Anarchie" des Mediums
mit dem Publizieren ohne übergeordnete Kontrolle (sofern der Inhalt
nicht geltendem Recht widerspricht).
Und in eben diesen Punkten liegen auch seine Schwächen: Informationen
müssen mühsam gefiltert und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft
werden, Gefahren wie Sicherheitslücken, Weitergabe von persönlichen
Daten und Viren müssen vom Nutzer selbst erkannt und unterbunden werden.
Um die Nachteile nicht gegenüber der Vorteile überwiegen zu lassen, ist es die Aufgabe des Einzelnen und der Gesellschaft, Wissen und Techniken zu erlernen und zu vermitteln, die aus dem Medium Internet eine Informationsquelle macht, aus der jeder selbständig die Dinge beziehen kann, mit denen er zu der für ihn idealen Problemlösung gelangen kann.
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